Alhierd Bacharevič: „Europas Hunde“, Übersetzung: Thomas Weiler

Donkromuta truduta klinkuta

Es war Erde in ihnen, und
sie gruben.

Paul Celan

Was für eine bittere Ironie, dass die Zweitauflage dieses Romans, in dem so viel gegraben und sich an der Heimaterde abgearbeitet wird, dem Erdboden gleichgemacht wurde. In Litauen gedruckt, wurde sie im März 2021 vom belarussischen Zoll konfisziert und wegen Extremismusverdachts einer Expertenkommission zur Prüfung vorgelegt. Im Mai 2022 schließlich wurde der Roman als erstes belletristisches Werk in Belarus überhaupt als extremistisch eingestuft, aus Buchhandlungen und Büchereien entfernt und mit Traktoren unter die Erde gebracht. Wie mögen diese Experten Europas Hunde gelesen haben? Welche Kapitel, Figuren, Gedanken haben sie besonders angesprochen? Hat sich ihnen die Schönheit der Kunstsprache Balbuta offenbart? Was hat sie so alarmiert? Wir kennen nur ihr Urteil und die Folgen.

Wer eine erst vor kurzem erfundene Sprache spricht, macht sich in gewisser Weise vor der Weltgeschichte unsichtbar. Die Weltgeschichte hasst so was. Sie beginnt zu knurren, zu ahnden, zu zielen. All die naturgewachsenen Sprachen wurden über Jahrhunderte geformt und abgeschliffen, bestimmte Wörter tunneln sich so weit in die Vergangenheit zurück, dass wir vor ihrem schwindelerregenden Bedeutungswandel wie vor einer Art Gottheit stehen. Nur in einer neuen, völlig geschichtslosen Sprache können dich die alten Götter nicht erkennen. Du bist frei, umtriebig. Du bist gefährlich.

(Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp 2020, S. 342f.)

Der Wille zur Freiheit, zur Loslösung von der drückenden Norm, das Eskapistische ist vielen Figuren aus dem Romankosmos eigen. Sie stehen abseits, fallen aus dem Rahmen, haben eigene Köpfe, sind locker geschraubt. Sie flüchten sich in Kunstsprachen, auf Gänserücken, in Märchenwelten, ins Fetischistische, Papierne und spüren doch immer die Erdenschwere, die inneren Wackersteine. Wer sich vom Gebell der Hunde Europas nicht Bange machen lässt, wer sich eingräbt, sich hineintunnelt in diesen großen Text, wird mit zahlreichen Irritationen belohnt. Im Folgenden will der Übersetzer hier und da ein kleines Grubenlicht anzünden. Es soll keineswegs die Geheimnisse ausleuchten (Imatu sigrutima!), kann aber vielleicht Erhellendes zur deutschen Fassung beitragen.

Im Zentrum die beiden Originale, gerahmt von Celan, Chodassewitsch, Darlon, Joyce, Lagerlöf, Nabokov …
Foto: Thomas Weiler

Sprachenvielfalt

Im Roman wird wie auch in Belarus neben Russisch Belarussisch gesprochen, außerdem Trasianka, eine Mischform, die Merkmale beider Sprachen in sich vereint. Die Erzählerstimme spricht Belarussisch. Um auch in der Übersetzung anzuzeigen, in welcher Sprache wir uns gerade befinden, werden Begrüßungen mitunter im O-Ton belassen. Russisches wird nach der bekannten Duden-Transkription wiedergegeben (Sdrawstwujte, Priwet), Belarussisches nach der Łacinka, der belarussischen Lateinschrift mit Sonderzeichen (Zdaroŭ, Dobry dzień). Zudem lässt sich an der Schreibung der Namen bisweilen ablesen, ob gerade Belarussisch (Maŭčun), Russisch (Moltschun) oder etwas dazwischen gesprochen wird (Maltschun). Die constructed language Balbuta blieb in der Übersetzung weitgehend unberührt bis auf wenige Konstruktionen, die für deutschsprachige Leser schwerer zu knacken wären als für Menschen mit Kenntnissen in slawischen Sprachen. Ob der Name der Sprache sich tatsächlich von „balavern“ herleiten lässt, ist fraglich. Das lateinische balbutire bedeutet jedenfalls so viel wie stammeln, stottern oder lallen, ebenso das esperantische balbuti. Balbuta lebt auch außerhalb des Romans. Es gibt ein balbutanisch geführtes Weblog (balaguta), eine Facebookgruppe, und den Internationalen Balbuta-Tag am 10. Januar.

Dass der Autor seiner Leserschaft im belarussischen Text Auszüge aus Rezept Nr. 281 (Rebhühner, alte, gedämpft) aus einem 1930 erschienenen Lebenslexikon in der deutschen Originalfassung zugemutet hat, hat uns zu ähnlichen Wagnissen ermuntert. Ein Rezept für Hammelhoden (Granelli fritti) aus Pellegrino Artusis Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens, das in der deutschen Übersetzung von Thomas Münster (Mary Hahn‘s Kochbuchverlag 1982) nicht enthalten war, bringen wir im italienischen Original.

Johannes Ittmanns Sprichwörter der Kundu, aus denen Kaštanka so gerne zitiert, sind noch antiquarisch erhältlich. Bedenkenswert ist zum Beispiel Eintrag Nr. 1346: „Sombo e sa loakana wábu dibokí.“ (Ein Hundsaffe schilt nicht den anderen wegen der Gesäßschwielen.“)

Und noch eine schwindelerregende Fußnote obendrauf: Die belarussischen Hunde Europas heißen Сабакі Эўропы (Sabaki Eŭropy), mehr zu Swahili und Sabaki hier.

Verschüttete Quellen

Bacharevič schöpft aus vielen Quellen. Solche, denen Zitate für die Übersetzung entnommen wurden, sind im Impressum der deutschen Ausgabe verzeichnet (Joyce, Puschkin, Nabokov, Chodassewitsch, Celan …). Immer wieder werden aber auch Quellen angezapft, die noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegen oder die hierzulande kaum bekannt sein dürften. Etwa in Teil VI:

Seite 650

Doch nicht umschlossen vom Panzer aus Eis, nicht von eisigem Wasser begossen …“, sagte Skima. Das waren nicht seine Worte. Es war etwas, das ihm der trübe, schwere Rum eingeflüstert hatte, der ihn inwendig mit seiner leblosen Hitze versengte.

Nein, das waren nicht seine Worte. Es waren Worte des Volksdichters der BSSR Arkadź Kulašoŭ (1914–1978) aus seiner Ballade Das Komsomol-Büchlein (Камсамольскі білет). Darin wird ein Komsomolze von einem feindlichen Gendarm aufgefordert, sich loszusagen und sein Komsomol-Büchlein zu verbrennen, dann käme er frei. Als er das nicht tut, wird er barfuß in die bittere Kälte hinausgejagt und mit Eiswasser übergossen. (Bacharevič führte in einem Essay aus, dass der Komsomolze nicht nur barfuß war, sondern splitternackt, aber dieses erotische Bild wäre der Zensur zum Opfer gefallen.) Das Büchlein ans Herz gedrückt, steht er in der Schlussstrophe da: „Doch nicht umschlossen vom Panzer aus Eis, / nicht von eisigem Wasser begossen, – / gegossen aus Bronze und sonnenbeglänzt / steht er in Ewigkeit über der Erde. Bekannt ist der Text auch in der Vertonung der Pesnjary im Stile einer Rockoper. Bacharevič verwendet das Zitat auch in seinem Roman Дзеці Аліндаркі (Alindarkas Kinder, 2014, S. 251), in Хлопчык і сьнег (Der Junge und der Schnee, 2023, S. 24) wird die Ballade ebenfalls erwähnt. Hier rezitiert ein putzig kostümierter Schüler eine russische Nachdichtung:

Und noch eine weitere Panzer-Stelle, mit der Skima in Minsk konfrontiert wird: „Der Panzer wird geputzt am Haus der Offiziere … So beginnt ein Gedicht des sowjetbelarussischen Lyrikers Pimen Pančanka (1917–1995) aus dem Jahr 1965. Der T-34-Panzer wurde 1952 neben dem Haus der Offiziere auf einen Sockel gestellt, steht dort heute noch (und steht bei Skimas Minsk-Besuch kurz vor seinem hundertjährigen Jubiläum).

Seite 519

Die Göttin Ikea, Schutzherrin von Belarus, vergoss über das Land die Strahlen ihres Rums. Dann kam der Überdruss. Ikea leerte sich. Ikarus stürzte ab. Und nun stand der blaue Kubus an der Schnellstraße nach Mahiloŭ, ragte unlustig aus der Landschaft, erinnerte an sein erstes Erscheinen, wartete auf neue Herren … Und doch hatte es sie gegeben, sie war da gewesen, diese eine Minute Nationalstolz. Auch wir hatten unsere Ikea. Auch wir konnten uns Menschen nennen. Erde, Freiheit, Brot, Ikea …

Hier wird eine bekannte Zeile aus dem Hymnus Mahutny Boža (Allmächt‘ger Gott) der Lyrikerin Natalla Arsenneva (1903-1997) verballhornt. Dort heißt es eigentlich: „[über Belarus] gieß aus deines Ruhmes Strahlen“, bei Bacharevič wird chvala (Ruhm) zu chalva (Halva). In der Übersetzung wurde Ruhm zu Rum verschnitten. Wenige Zeilen zuvor wird ein weiterer Text durch den Kakao gezogen, der zeitweise als belarussische Hymne galt: Aus „Radzima maja darahaja“ (Heimat, meine teure) wird „Ikea maja darahaja“, einige Zeilen weiter müssen auch noch zwei kanonische Gedichte des Nationaldichters Janka Kupała dran glauben, darunter das „Weißruthenische Nationallied“, wie Rudolf Abicht es in seiner 1919 veröffentlichten Übersetzung nannte (in: Walter Jäger: Weißruthenien. Land, Bewohner, Geschichte, Volkswirtschaft, Kultur, Dichtung. Berlin 1919, S. 136ff).

Alexej Tolstois utopischer Roman Гиперболоид инженера Гарина (Das Hyperboloid Ingenieur Garins), entstanden 1926/27 nach Jahren der Emigration in Berlin und Paris, liegt zwar in deutscher Übersetzung vor (Geheimnisvolle Strahlen, Ü: Arnold Wassenhauer, Anneliese Bausch, Verlag Kultur und Fortschritt 1957), ist aber kaum bekannt. Doch die geheimnisvollen Strahlen leuchten verschiedentlich in Europas Hunde auf, und sei es nur motivisch. Zwei kurze Tolstoi-Zitate mögen das veranschaulichen: „Das war der persönliche Safe des Diktators. Er barg nicht Gold oder wichtige Papiere, sondern einen Schatz, der für Garin noch weit kostbarer war, nämlich den bereits in Europa engagierten dritten Doppelgänger. […] Garin setzte sich vor den Toilettentisch. Ohne sich einzuseifen, kratzte er sich hastig den Bart ab.“ (S. 350f) „Auf dem linken Ufer [der Seine], bis zum Ministerium des Äußeren, dösten längs der granitenen Böschung die Straßen-Antiquare neben ihren Büchern, die in dieser Stadt schon längst niemand mehr brauchte.“ (S. 164)

Cover der russischen Ausgabe, Gosisdat 1927
Quelle: Wikimedia Commons

Manchmal hat man als Übersetzer ein unmarkiertes Zitat erkannt, die Quelle gefunden und sogar entsprechende deutsche Übersetzungen aufgestöbert und muss dann trotzdem improvisieren.

Oleg Olegowitsch und Koźlik an der Śvisłać, bzw. Alexander Sergejewitsch und Onegin an der Newa. Quelle: Wikimedia Commons

„Er war so kühn, an mich zu schreiben. Umfinstert von Sibiriens Erz.“ Mit diesen geliehenen Worten lässt Oleg Olegowitsch den aufdringlichen Koźlik auflaufen. Der erste Satz ist die leicht abgewandelte Anfangszeile von Tatjanas berühmtem Brief an Onegin, die jeder russischsprachige Leser sofort erkennen wird. In der Übersetzung des Puschkin-Poems von Theodor Commichau lautet die Passage (Drittes Kapitel, XXXI): „Ich bin so kühn, an Sie zu schreiben – / Ach, braucht es mehr als dies allein? / Nun wird gewiss – was soll mir bleiben? – / Verachtung meine Strafe sein.“ Auch Koźlik muss ja die Verachtung des Meisters auf seinen Vorstoß hin fürchten. So weit, so gut. Der zweite Satz ist bei Bacharevič ebenfalls ein kanonischer Puschkinvers, die zweite Zeile aus dessen Gedicht Зимний вечер (Winterabend, 1827). Michael Engelhard übersetzt: „Stürme durch den Himmel eilen, / Wirbelnd jagt der Schnee den Wind; / Heult bald so wie Wölfe heulen, / Und bald weint er wie ein Kind […]“ (vgl. Rolf-Dietrich Keil (Hg.): Alexander Puschkin. Die Gedichte. Insel 1999, S. 505). Das verbindet sich im Deutschen nicht recht mit dem ersten Zitat. Kein deutscher Leser wird zudem in „wirbelnd jagt der Schnee den Wind“ ein Puschkin-Zitat erkennen, nicht einmal als Vers ist dieser Halbsatz einwandfrei zu identifizieren. Was also tun? Vergleichbare Zeilen unter deutschen Zeitgenossen Puschkins suchen, die für ein deutsches Lesepublikum leichter zu erkennen und einzuordnen sind?

aus Joseph von Eichendorffs Winternacht (Verschneit liegt rings die ganze Welt …): „Der Wind nur geht bei stiller Nacht / und rüttelt an dem Baume, / da rührt er seinen Wipfel sacht / und redet wie im Traume“
aus Sehnsucht nach dem Frühling von Heinrich Hofmann von Fallersleben: „O wie ist es kalt geworden / und so traurig, öd‘ und leer! / Rauhe Winde wehn von Norden, / und die Sonne scheint nicht mehr.“ Problematisch wird es aber in jedem Fall mit dem Anschluss, da der Erzähler bei Bacharevič fragt, warum Koźlik ihn auf Russisch anredet. Also wieder zurück auf Los. Um hier Plausibilität herzustellen, wurde letztlich auf ein anderes berühmtes Puschkingedicht zurückgegriffen: Во глубине сибирских руд (1827) bzw. nach Michael Engelhard (a.a.O., S. 569): „Umfinstert von Sibiriens Erz …“ Das Stichwort „Sibirien“ baut für deutsche Leser die Brücke zum Russischen, Wortwahl und Satzbau machen die Zeile zudem sofort als Zitat kenntlich, zumal sie das Metrum der ersten Zeile aufnimmt.

Autofiktion und Mystifikation

„Verzeihung, sind Sie … sind Sie nicht Bacharevič? “ In Teil IV von Europas Hunde hat das Autorenpaar Alhierd Bacharevič und Julia Cimafiejeva einen Cameo-Auftritt. Aber auch vorher schon werden immer wieder autobiographische Spuren gelegt. Bereits auf der ersten Seite des Romans erscheinen die „Fliegenmilchdörfer“ im Text. In seinem 2016 entstandenen Essay Fliegen in der Milch (deutsch in: Berlin, Paris und das Dorf. edition.fotoTAPETA 2019, S. 9–24) wird das Kindheitserlebnis des Stadtjungen eindrucksvoll ausgebreitet: „Das Einmachglas mit der Milch stand auf dem Tisch mit der hier und da eingeschnittenen Wachstuchdecke. Oben auf der Milch schwammen drei oder vier schwarze Punkte. Ich ging näher heran und schaute in das Glas. Das waren Fliegen. Die schwarzen Fliegen schwammen auf der Milch wie Buchstaben auf einem weißen Bogen Papier.“ Inzwischen ist der Essay nahezu unverändert auch in den autobiographischen Band Хлопчык і сьнег (Der Junge und der Schnee) eingegangen, der 2023 bei Knihaŭka erschien. Aber das Motiv findet sich schon viel früher. Bereits im Roman Die Elster auf dem Galgen (Leipziger Literaturverlag 2010, S. 16) schwimmen die Fliegen in der Milch. Und sie tun es noch im 2021 entstandenen Gedicht Anaemia patriotae im Lyrikband Вершы/Vieršy (Viasna 2022, S. 47). Zuerst erschien Fliegen in der Milch im Band Potemkinsche Dörfer der Idylle (Transcript 2018). Die Umschlagabbildung (versteinerte Gänse!) stammt aus der Fotoserie „Blau“ von Julia Cimafiejeva.

© Transcript Verlag

Ebenfalls in Teil IV begegnet der Tütenmensch (homo paceticus) seiner ehemaligen Schülerin und erinnert sich, wie er „einmal auf ihrer Schläfe seinen stachligen Kuss hinterlassen hat.“ Das Urbild dieser Szene ist in Bacharevičs Мае дзевяностыя (Meine Neunziger, Januškievič 2018, S. 260) nachzulesen. Auch die Nöte des Lehrers in Teil V des Romans sind sichtlich von den Erfahrungen des Junglehrers Aleh Ivanavič Bacharevič Ende der 90er inspiriert. Es doppelgängert also gewaltig. Spiegelungen und Wiedergänger sind auch zentral in Alexej Tolstois Geheimnisvolle Strahlen, in Wladislaw Chodassewitschs Gedicht Vor dem Spiegel und natürlich in Nabokovs Verzweiflung, die allesamt im Romantext präsent sind. Überhaupt, Nabokov: Dass Koźlik in Teil I gerade den Dreitausendseiter Quercus liest, Nils in Teil IV in der Berliner Agamemnonstraße arbeitet und der Zugreisende in Teil VI auf dem Weg nach Prag einen gewissen Fulmerford (oder Fulmerfold?) erwähnt, spricht für sich. Und ist der gealterte Nabokov mit dem Schmetterlingsnetz nicht ein Wiedergänger des jungen Nils Holgersson, der mit dem Fliegennetz das Wichtelmännchen zu fangen versucht? Bacharevič war übrigens zeitweise Stipendiat am Pariser Centre International d’Accueil et d’Échanges des Récollets und lebte in Minsk in der vulica Siadych. Aufgewachsen ist er im Stadtteil Drashnja in der vulica Tajoshnaja. In Der Junge und der Schnee notiert er über den Moment, da er nach seiner Entlassung aus der Geburtsklinik erstmals im Taxi dort vorfährt: „Von jenseits des Zaunes kam Hundegebell.“

Musikalisch-Filmisches

Filme, Musik und Filmmusik spielen auch in diesem Bacharevič-Text eine Rolle: Der Brillanten-Arm (Бриллиантовая рука, 1969), Der Gast aus der Zukunft (Гостья из будущего, 1985), Zeilen aus dem Repertoire der Pesnjary oder von Sjabry … In Teil IV würde der Protagonist mit der Plastiktüte im überfüllten Kleinbus nach Minsk gerne mit den anderen Fahrgästen The Passenger grölen, den alten Hit von Iggy Pop und Ricky Gardiner. Der russische Filmregisseur Kirill Serebrennikow setzte Bacharevičs Idee um und legte das Lied in seinem Film Leto (2018), einer Hommage an Viktor Zoi und die legendäre Band KINO (ehemals Garin und die Hyperboloiden), den Passagieren eines Leningrader Trolleybusses in den 1980er Jahren in den Mund.

Damit ist der Tütenmensch denkbar weit entfernt von seinen Mitfahrern und der Musik aus dem Mantel-und-Degen-Film Gardemariny, wperjod! (Gardemarine, vorwärts! Mosfilm 1988).

In der folgenden Beschreibung des Tütenmenschen findet sich ein musikalischer Verweis ganz anderer Art: „Das Gesicht gebräunt, ungewaschen, glücklich, graue Stoppeln tummeln sich um die Augen, auf dem Kopf Chaos statt Musik, spärliche widerspenstige Haare.“ Mit „Chaos statt Musik“ („Сумбур вместо музыки“) war in der Prawda vom 28. Januar 1936 ein folgenreicher Verriss der Schostakowitsch-Oper Lady Macbeth von Mzensk überschrieben.

Das Hasenlied (Песня про зайцев), das die Hochzeitsgäste in Teil IV vom Tütenmenschen hören wollen, entstammt der sowjetischen Gaunerkomödie Der Brillanten-Arm von 1968. Auch in Teil II wird schon auf diesen Kultfilm angespielt, als der schwanengleiche Major Lebed daraus zitiert. Kurz darauf bemüht er noch ein geflügeltes Wort aus dem sowjetischen Fünfteiler Die schwarze Katze (Место встречи изменить нельзя, 1979), das Wladimir Wyssozki in seiner Rolle als Kriminalhauptmann Gleb Sheglow geprägt hat: „Und jetzt der Bucklige!“

Diesen Buckligen, den Kopf einer berüchtigten Bande, verkörperte Armen Dschigarchanjan (1935–2020), ein armenisch-sowjetischer Schauspieler, der auch in Bacharevičs Gedicht Kampfkunst noch einmal Erwähnung findet. Dass Bacharevič nicht wahllos, sondern mit Bedacht in die Zitatekiste greift, veranschaulicht beispielsweise die Szene in Teil VI, in der Matti Marttinen mit einer Flasche niedergeschlagen wird. Eben schwärmt Skimas bartloser Doppelgänger noch von Siebzehn Augenblicke des Frühlings, einem sowjetischen Fernseh-Zwölfteiler aus dem Jahr 1973, dann muss er selbst eine Szene daraus durchleben. In Serie 8, Minute 19, setzt SS-Standartenführer Max Otto von Stierlitz (alias Maxim Issajew) Obersturmbannführer Ferdinand Holtoff mit einer Kognakflasche außer Gefecht.

***

Clemens J. Setz eröffnete mit Die Bienen und das Unsichtbare einen schönen Zugang zum Balbuta-Thema, vgl. das eingangs angeführte Zitat in diesem Fußnotentext. In seinen Roman Monde vor der Landung (Suhrkamp 2023) ragt wiederum ein tröstliches Fädchen hinein, das Bacharevič bzw. sein Sprachenerfinder Oleg Olegowitsch in Europas Hunde liegen ließ:

Seite 21

Sein Ende lugt aus der leicht geöffneten Schublade des leeren Tisches. Gott allein weiß, wie es hierhergeraten ist, das blaue Fädchen, das sich an einem Nagel in der Holzschublade verhakt hat. Behutsam, damit das unscheinbare blaue Schwänzchen nicht abreißt, befreie ich es, ziehe es ab und wickle es mir um den Zeigefinger. Dann wickle ich es wieder ab. Und wieder auf. Es ist so lang wie meine Hand. Das Spiel fesselt mich. Ich denke nun nicht mehr an Wörter. Ich spiele mit meinem Fadenfreund, und ein anderer, der uns nicht länger zusehen möchte, räuspert sich und beginnt zu sprechen …

Setz lässt uns auf Seite 353 seinem Protagonisten Peter Bender im Dezember 1935 in die Frankfurter Universitäts-Nervenklinik folgen:

Ein alter Mann namens Hans, der hier eingesperrt war, weil er niemanden mehr erkannte, kam langsam durch den Korridor geschlendert. Er war unterwegs zu seiner ‚Schnur-Schnur‘, wie er es nannte: ein längerer Faden, der zufällig aus dem Scharnier einer Tür herausragte. Mit diesem Faden beschäftigte er sich jeden Tag über mehrere Stunden. [Es folgt ein Einschub, in dem Bender sich mit den anderen Insassen der Nervenanstalt in ein ernsthaftes Gespräch begibt. Josef wird eingeführt, ein Esperantolehrer aus Graz, der ‚in unüberwachten Geistesmomenten einige Stellen aus der Heiligen Schrift auswendig in seine bolschewistische Fantasiesprache übertrug.‘] So ging der Abend hin, und Hans spielte mit seinem Freund, dem Faden.

Thomas Weiler

Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Alhierd Bacharevič.

Viktor Martinowitsch: „Revolution“, Übersetzung: Thomas Weiler

Thomas Weiler über die Fußnoten in der „Revolution“

Wille zur Ohnmacht?

Wenn Anfang 2021 der Roman eines belarussischen Autors mit dem Titel Revolution erscheint, ist Vorsicht geboten. Gleich vorab: Es geht hier nicht um die friedliche Revolution, die seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020 die Menschen in Belarus auf die Straße treibt. Die literarische Verarbeitung dieser Tage wird noch einige Zeit auf sich warten lassen.

Viktor Martinowitsch trägt seinen Revolutionsstoff seit 2009 mit sich herum, 2017 hat er das Manuskript während eines Aufenthalts in Zürich abgeschlossen. Die nun vorliegende deutsche Übersetzung erscheint noch vor dem russischen Original etwa zeitgleich mit der belarussischen Übersetzung von Vital Ryžkoŭ. Interpretationen und Rezensionen des Textes liegen noch nicht vor, der Übersetzer ist also bei seiner Arbeit ganz allein mit dem Text. Eine Position der Ohnmacht?

Der Autor nimmt in seinem Roman den Willen zur Macht in den Blick und betrachtet ihn von der anderen Seite. Sein Protagonist, zugleich der Ich-Erzähler, bringt den Willen zum Gehorsam, zur Fügung mit und wird damit für die Mächtigen und ihre manipulatorischen Eingriffe zu einer interessanten Figur. Ist der Wille zur Ohnmacht nicht auch für Übersetzer eine conditio sine qua non? Unterwerfen sie sich nicht professionell dem jeweiligen Original und suchen ihr Heil in der Fügung?

Felicitas Hoppe gab ihrer eindrucksvollen Lobrede auf das Übersetzen zum 20-jährigen Bestehen des Deutschen Übersetzerfonds 2017 den vielleicht überraschenden Titel „Vom mächtigsten Handwerk der Welt“ und bekannte, sie habe „einen geradezu höllischen Respekt vor Übersetzerinnen und Übersetzern […], eine Mischung aus Ehrfurcht, Achtung und Angst“. Da das manchen Lesern ähnlich ergehen mag, will der Übersetzer hier Einblicke in sein Tun geben, dunkle Hintergründe aufhellen und Transparenzen erzeugen.

Viktor Martinowitsch - Revolution

Der Erzähler beschreibt im Text Details der Einbandgestaltung und nimmt damit Einfluss auf den Gestaltungsspielraum des Grafikers. Wille zur Macht?

Seite 22

Sobald man den Motor anließ, krächzte das Radio los, durch das weiße Rauschen drang eine kratzige Stimme: »polem, polem, polem, belym-belym polem dymmmm«, du klatschtest in die Hände und sagtest: »Ja, Wahnsinn! Das ist doch Rosenbaum!« Nachdem wir Alexander Rosenbaum dreimal beidseitig angehört hatten (Autoreverse hatte dieses Wunder sowjetischer Technik nicht), wollten wir den Chansonnier aus dem Kassettenfach befreien.

Dieser Klassiker des Liedermachers Alexander Rosenbaum erschien zuerst 1987 auf dem Album Moi dvori, er ist hier nachzuhören. Das weiße Rauschen und die unvergleichliche Shiguli-Akustik denke man sich bitte dazu.

Seite 47

Und der Reporter sprach von »Entsagung«, von »Selbstlosigkeit« und den »stillen Freuden des Lebens«, und es war schon zu spüren, dass sein kulturelles Niveau ihm den Vergleich regelrecht aufzwang: den Vergleich (die anderen wissen’s ja nicht!) des »heroischen« Machtverzichts des Alten mit der Geschichte, die der Schlosser Goscha im Film Moskau glaubt den Tränen nicht erzählt, vom römischen Kaiser Diokletian, der auf den Thron verzichtet und sich in die Landwirtschaft zurückzieht. Und als Diokletian gefragt wurde, warum er abgetreten sei, (hier hob Goscha die Stimme, wie vor der Pointe eines guten Witzes, damit auch alle lachten), antwortete er: »Ihr müsstet mal sehen, was bei mir für Kohlköpfe wachsen!«

Moskva slezam ne verit (1980) erhielt einen Oscar als bester ausländischer Film. Aber wohl nicht wegen der Diokletian-Szene, die man sich hier anschauen kann. Goscha wird verkörpert von Alexej Batalow.

Seite 68f.

Ich wandte mich um, starrte ihn an, prägte ihn mir ein. Da war er, einer der großzügigen »Freunde«. Langhaarig, dunkel, mit sprießendem Backenbart auf den Wangen. So ein richtiger Onegin, wobei ich mir, was Onegins Backenbart angeht, alles andere als sicher bin. Man könnte ihn auch Fandorin nennen, dann hätte die breite Masse sein Bild deutlicher vor Augen. Für diese Masse ist heute Fandorin ursprünglicher als Onegin – eine hässliche Semiose unserer verfälschten Zeit.

Ob Jewgeni Onegin Backenbart trug, geht aus dem Versroman Alexander Puschkins nicht hervor, der Verfasser selbst war aber berühmt für seine bakenbárdy. Und Onegindarsteller wurden in mehreren Verfilmungen mit Backenbart ausgestattet, Ralph Fiennes darf in Onegin (1999) immerhin Koteletten tragen.

Seite 98

An der Anspannung, die seinen ganzen Körper erfasste, sobald er sich nach rechts neigte, an der Art und Weise, wie er mit der freien Hand seine rechte Flanke hielt und schützte und an den unsicheren Bewegungen dieses schlaffen, verzögerten Arms, den er scheinbar nur bis zu einem bestimmten Punkt anheben konnte, las ich ab, dass dort etwas nicht in Ordnung war, irgendwo auf Bauch- oder Brusthöhe. […] Wir hatten vielleicht zehn Schritte geschafft, da tauchte neben uns eine Patrouille auf, und mein Begleiter wollte den Schwarzen Raben anstimmen, stockte aber, schnappte nach Luft, mir fiel auf, dass er extrem schnell atmete, offenbar ein traumatischer Schock.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Iwan Arkadjewitsch in dieser Situation ausgerechnet der Schwarze Rabe (Čorny voron) in den Sinn kam. Das Lied handelt von einem sterbenden Soldaten, über dem schon der schwarze Rabe kreist. Die tödliche Wunde bedeckt er mit einem Tuch und singt dem Raben zu: Nimm das Tuch, das blutgetränkte, / trag’s zu meiner Liebsten heim. / Sage ihr, sie wird nun frei sein, / Eine andre sei nun mein. (Nachdichtung: Margit Bluhm). Diese andre ist, je nach Version, ein (im Russischen weiblicher) Säbel oder eine Kugel. Hier wird also schon vorweggenommen, wie es um Iwan Arkadjewitsch bestellt ist und wie es mit ihm zu Ende gehen wird. Die Schlusszeilen lauten: Schon seh‘ meinen Tod ich nahen – / schwarzer Rabe, ich bin dein!

Hier ist das Lied zu hören in einer Version von Boris Grebenschtschikow.

Seite 227

An einem ungewöhnlich heißen Tag im Mai erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Moskauer Patriarchenteichboulevard zwei Männer. Der eine, etwa vierzig Jahre alt, trug einen mausgrauen Sommeranzug, war von kleinem Wuchs, dunkelhaarig, wohlgenährt und hatte eine Glatze; seinen gediegenen Hut hielt er wie ein Brötchen in der Hand, eine überdimensionale schwarze Hornbrille zierte das glattrasierte Gesicht. Der andere, breitschultrig, mittelgroß, leicht gebeugt, mit dem hageren und nachdenklichen Gesicht eines Genies, war ich.

Martinowitsch bedient sich hier bei den Anfangssätzen aus Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita (Master i Margarita). Auf Deutsch liegen Übersetzungen der Kollegen Thomas Reschke und Alexander Nitzberg vor, die sich vor allem syntaktisch massiv voneinander unterscheiden. Welche passt hier besser? In der Abbildung liegen beide nebeneinander.

Sofort ins Auge fällt einem bei Reschke (links) das sonderbare Brötchen in Zeile 5. Bei Nitzberg hielt Berlioz den Hut „zusammengedrückt in der Falte“. Das Bild wird klar. Nur greift Martinowitsch Bulgakows offensichtlich auch für russische Ohren wunderliche Formulierung wenige Sätze später noch einmal auf. Deshalb habe ich entschieden, das ältere Reschke-Brötchen zu übernehmen. Nitzberg führt zu dieser Stelle in seinen Notizen unter der Überschrift „Problematisches und Gescheitertes“ übrigens aus: „Wörtlich heißt es, er halte „seinen anständigen Hut als Pirogge in der Hand“. Die Ablativ-Konstruktion „als Pirogge“ (pirožkom) ist keine Metapher, sondern ein Idiom und bedeutet, dass der Hut eine Falte hat. Daneben existiert aber auch eine Pelzmütze, die im Nominativ als „Pirogge“ (pirožok) bezeichnet wird. Und obwohl Bulgakow in seiner Beschreibung die Ablativ-Form verwendet und somit eindeutig von einem Hut spricht, schwebt ihm offenbar gleichzeitig irgendwie auch die Pelzmütze vor, denn gerade sie ist eine beliebte Kopfbedeckung, ja ein Statussymbol der Sowjet-Elite. Freilich würde Berlioz an einem der heißesten Tage des Jahres wohl kaum eine Pelzmütze tragen.“ (Alexander Nitzberg: Ein Buch mit sieben Buckeln. Notizen des Übersetzers. In: Michail Bulgakow: Meister und Margarita. Berlin: Galiani 2012 [563-582] S. 579)

Seite 229

Philipp sagte, ich müsste binnen 48 Stunden ein Gutachten zusammenschreiben, dass dieses Häuschen nicht als Architekturdenkmal gelten könne, entgegen den anders lautenden drei Gutachten von 1937, 1976 und 1985.

»Was du dir einfallen lässt, ist dein Ding. Du unterschreibst mit deinen kompletten Regalien: Professor, Dekan, Vitzliputzli«, trug er mir auf. »Schreib schön künstlerisch, anstelle dieser Bruchbude soll in einem halben Jahr ein zwanzigstöckiger Office Tower stehen.«

»Kostenpunkt«, ergänzte er nach einer Pause, »202 Limonen. Du weißt, was du zu tun hast, hübsch mit Gefühl, mit Sinn und mit Betonung.«

Auf Russisch sagt Philipp: „professor, dekan, chury mury“. Letzteres ist ein salopper lautmalerischer Ausdruck, der Philipps Geringschätzigkeit für den ganzen akademischen Zauber zum Ausdruck bringt. Ich fand „Vitzliputzli“ als Entsprechung ganz passend. Und habe später beim Wiederlesen von Bulgakows Meister und Margarita in der Anfangsszene unmittelbar vor dem ersten Auftauchen Volands den Satz entdeckt: „Und just in dem Augenblick, in dem Michail Alexandrowitsch dem Dichter über Vitzliputzli erzählte und wie dieser von den Azteken aus Teig geknetet worden war, zeigte sich in der Allee der erste Mensch.“ (Übersetzung Alexander Nitzberg, S. 13). Höchst sonderbar, was in Übersetzergehirnen bisweilen vorgeht …

Mit der Wendung „mit Gefühl, mit Sinn und mit Betonung“ zitiert Philipp, vermutlich ohne sich der Quelle bewusst zu sein, aus Alexander Gribojedows Komödie Gore ot uma (1824). Auch hier mussten verschiedene Übersetzungen ins Deutsche gewälzt werden, bis eine in diesem Kontext passende gefunden war, die durch Metrum und den Dreischritt als Zitat erkennbar wird (Geist bringt Kummer, Übers. Johannes von Guenther. Berlin: Aufbau 1948, S. 33). In der Übertragung von Dr. Bertram [Georg Julius von Schultz] (Verstand schafft Leiden, Brockhaus 1853) lauteten die betreffenden Zeilen: „Lies mit Gefühl, Verstand, und dann und wann / Bei Punct und Komma halte an.“

Arthur Luther übersetzte 1922: „Nimm den Kalender von der Wand / und lies mit Ausdruck und Verstand“ (Leipzig: Reclam 1963). In der jüngsten Übersetzung von Peter Urban (Wehe dem Verstand. Berlin: Friedenauer Presse 2004) stand zu lesen: „Und lies nicht wie ein Küster vor, / Lies mit Gefühl, Verstand, mit Pausen.“

Seite 252f.

»Wollen wir anstoßen? Ich hab Champagner kalt gestellt.« Und rasch zur Tür, das Schnappschloss zweimal umgedreht, der Herr Prorektor ist im Aktenstudium. Mit seiner Sekretärin. Und aus dem geheimen Schränkchen hinter dem Gemälde (eine Kuindshi-Reproduktion, geschmacklos, weg damit) die langstieligen Gläser und eine Flasche Veuve Clicquot. Wie gekonnt du den Champagner entkorkst, Anna!

Der russische Landschaftsmaler Archip Kuindshi (1842?–1910) ist häufiger mal ins (für heutige Verhältnisse) Kitschige abgedriftet. Etwa bei seinem Regenbogen, der im Russischen Museum in Sankt-Petersburg prangt.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 298

»In seinen Ausführungen zum Wesen des Verhältnisses von Es und Über-Ich verwendet Freud das Bild von Pferd und Reiter, in dem das Pferd dem Es entspricht und der Reiter dem Über-Ich. Ohne die unbedachte Kraft des Pferdes gäbe es keine Energie zur Fortbewegung. Aber nur das Über-Ich vermag diese Energie zu zügeln und sie in die richtigen Bahnen zu lenken.«

Hier irrt Batja (oder Martinowitsch? Oder German?). Freud spricht in seiner 31. Vorlesung Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit von Pferd und Reiter nur im Zusammenhang mit Ich und Es, das Über-Ich hat hier eigentlich nichts verloren: „Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten.“ (Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1933, Seite 107f.)

Auf dem Foto von 1922 ist Freud mit Herbert Graf zu sehen.

Seite 307

Und dann lief auch noch Björk – du magst sie ja, mir ist sie zu chaotisch – erst dieses lange Akkordeon-Intro, dann die Bläser und dann sang sie, so leidend und verloren, und schon wieder dieses Wort: »I miss you, but I haven’t met you yet.«

Der Björk-Song stammt aus dem Album Post (1995). Interessant ist die inhaltliche Parallele zu einem Satz, den der Meister im Gespräch mit Besdomny über Margarita äußert: „Sie pflegte übrigens später zu sagen […], wir hätten einander schon seit langem geliebt, ohne uns zu kennen, ohne uns je gesehen zu haben.“ (Übersetzung Thomas Reschke)

Als Übersetzer hat man ständig Angst, irgendwelche Verweise zu übersehen. Deshalb erkennt man irgendwann überall Bezüge. Ob der Autor sie auch gesehen hat?

Seite 312

Ich las und las und folgte den Textpfaden immer tiefer in die Historie hinein, ich wusste, was Cäsar nach dem ersten Schwerthieb auf seinen Kopf gesagt hatte (gefunden bei Plutarch), wusste, wie Paul gekrächzt hatte, als sie ihn erdrosselten, aber vor allem wurde mir immer klarer, was diesen Todesstößen und Erdrosselungen vorausgehen musste.

Hier hat der Protagonist seinen Plutarch offenbar nicht gründlich genug gelesen. Der erste Streich war, zumindest nach Plutarch, kein Schwerthieb auf Cäsars Kopf, sondern ein verunglückter Dolchstoß gegen den Hals bzw. ein Degenstich ins Genick, woraufhin Cäsar Publius Servilius Casca Longus fragte: „Verruchter Casca, was beginnst du?“ So in Des Plutarchus von Chäroneia vergleichende Lebensbeschreibungen in der Übersetzung aus dem Griechischen von Johann Friedrich Salomon Kaltwasser, Magdeburg: Keil 1803, S. 126.

In Karl Theodor von Pilotys Gemälde Cäsars Ermordung (um 1865) ist Casca mit gezückter Waffe zu sehen. Auch dort eher in Stoß- als in Schlaghaltung.

Seite 340

In der Zauberstadt, die mich in meinen Träumen immer noch verfolgt, gibt es zwei ebensolche Türme, geziert von finsteren Soldaten-, Arbeiter- und Bauernfiguren. Das symbolische Tor gibt, indem es sich auftut in jener sonnenbeglänzten, menschenleeren, verängstigten Stadt, den Weg in die Uliza Kirowa frei, ihm gegenüber liegt der riesige Bahnhof.

Der Minsker Bahnhofsvorplatz mit den beiden Tortürmen (rechts im Bild das verglaste Bahnhofsgebäude) hat auch in Martinowitschs Debütroman Paranoia schon einen Auftritt:

Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Roland

„In der Glasfront vor mir spiegelten sich die beiden wuchtigen Türme des Stadttores, und ich drehte mich tatsächlich um, da mir unbegreiflich war, wie dieser Riesenbau dort hinter meinen Rücken geraten war, wo doch der Wartesaal sein musste. Aber ich sah nur die Rolltreppe, eine Frau an der Kaffeemelkmaschine und ein paar zufällige Gestalten, in denen dich erkennen zu wollen einfach dämlich war. Da wurde mir klar, dass die Tortürme kein Spiegelbild waren, sondern sich jenseits der Glasfront befanden, vor der ich stand, und als ich mich selbst irgendwo auf Höhe des fünften Stocks erblickte, war ich völlig verwirrt.“ (Paranoia, S. 248)

Zum Vergleich die Türme am Moskauer Gagarin-Platz:

Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Gennady Grachev

Seite 385

Du, Olessja Lessenko, für die ich diese Revolution gemacht habe, arbeitest in einem Bliny-Lokal auf der anderen Seite der Uliza Malaja Morskaja, und aus dem Fenster deines Lokals ist der Isaak zu sehen.

Um noch mal auf den gärtnernden Diokletian zurückzukommen: Kohlernte auf dem Platz vor der Isaakskathedrale während der Blockade Leningrads im Herbst 1942.

Thomas Weiler

Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Oleg Senzow.

Ivana Sajko: „Familienroman“, Übersetzung: Alida Bremer

Alida Bremer über die Fußnoten innerhalb des „Familienromans“

Mit Familienroman. Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus (OT: Povijest moje obitelji od 1941. do 1991, i nakon) hat Ivana Sajko einen Familienroman geschrieben, der zugleich eine komprimierte Geschichte Kroatiens ist, vor allem die der Hauptstadt Zagreb in der Zeitspanne zwischen zwei Kriegen. Diese beiden Kriege haben das Land und all seine Bewohner nachhaltig beeinflusst; auch wenn die Ereignisse zunächst lokal anmuten, ist die Geschichte dieses kleinen Landes in seiner komplexen europäischen Randlage ein Spiegelbild der Geschichte des gesamten Kontinents.

Cover Sajko, Familienroman

Kommunisten und Faschisten, Freiheitskämpfer und Besatzer, Idealisten und Realisten, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder – alle drehen sich hier im Strudel der historischen Geschehnisse wie in einem Kaleidoskop. Ausdrucksstarke Bilder oder manchmal nur Skizzen blitzen auf, deuten mehr an, als gesagt wird – viel mehr. Die Autorin arbeitet mit Pausen, mit Leerstellen zwischen den Absätzen, mit Schweigen, damit man das Lesen dieses dichten Textes verlangsamen kann, um das Gelesene in Ruhe auf sich wirken lassen zu können. Es ist eine herausragende Eigenschaft ihres Schreibens, dass sie dank ihrer verdichtenden, komprimierenden Schreibtechnik mit wenigen Worten so viel sagen kann. Dazwischen montiert sie Zitate, die ich für diese deutsche Veröffentlichung neu übersetzen oder anpassen musste.

In diesem Roman wird die Sprache der historischen Fakten mit der Sprachlosigkeit einer Familie verwoben, das Dokumentarische mit dem Intimen und dem Privaten. Für die Übersetzung suchte ich nach dem passenden Ton: Wie ergänzen sich die beiden Sprachstile? Wie soll ich das Diskursive mit dem Emotionalen vereinigen? Wie soll ich sachliche Berichte über konkrete historische Ereignisse und Zitate aus den Werken oder Reden realer Persönlichkeiten sowie diverse andere Exkurse ins Faktische sprachlich von dem ganz persönlichen Erleben der Familienmitglieder trennen und sie gleichzeitig ineinander spiegeln lassen? Außerdem verwendet die Autorin zwei Literaturwerke, einen Einakter von Čechov (Der Heiratsantrag) und das Poem Das Massengrab des kroatischen Dichters Ivan Goran Kovačić, die beide von anderen Übersetzern ins Deutsche übertragen wurden – auch diese Textstellen sollten sich in den gesamten Ton des Romans einfügen. Es war auch wichtig für mich zu verstehen, wie die Autorin diese Texte liest: Čechovs komisches Theaterstück verwendet sie, um selbst eine Situationskomik zu entwickeln, und zwar beim Schauspiel „im Wald“, in dem die Partisanenkämpfer sich versteckt hielten und gemäß der kommunistischen Doktrin über die Notwendigkeit der Kultur auch das Amateurtheater pflegten. Hier ist auf einigen Fotos zu sehen, wie die SchauspielerInnen des „Theaters der Volksbefreiung“ ausgesehen haben.

Und das Poem Das Massengrab, diesen zentralen Text der kroatischen Literatur über das Leiden der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, verwendet sie als Folie, auf der sich zwei dramatische, miteinander verbundene Prozesse abspielen: die Geschichte des Landes und das Familiendrama.

Den integralen Text des Poems von Kovačić, der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, kann man hier in der Nachdichtung von Zlatko Gorjan lesen.

Seite 7

Die erste ist die Geschichte meiner Familie, meiner Urgroßmütter, meiner Großmütter, meiner Großväter, meiner Mutter und meines Vaters, ihrer Einschusslöcher, der Glocken in ihren Köpfen und der Mäuse unter dem Bett. Sie blicken in die Zukunft, ohne jede Überraschung, wie Klees Angelus Novus. Sie starren mit aufgerissenen Augen vor sich hin und schreien lautlos in ihren kleinen Küchen. Dieses Buch ist die Reaktion auf ihre Stille.

Direkt am Anfang steht diese doppelte Anrufung: Wie zwei Musen werden Walter Benjamin und Paul Klee beschworen, allerdings wird der erste von der Autorin nicht namentlich genannt, nur der zweite, der das Bild, das einst Benjamin gehörte, gemalt hat – Angelus Novus. Anders als bei Benjamin starrt der Neue Engel bei Ivana Sajko in die Zukunft. Aber das Gefühl, welches dieser Engel im Betrachter hervorruft, bleibt ähnlich.

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Aus: Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX ( Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (werkausgabe edition suhrkamp), Frankfurt a. M. 1980, Band I.2: Abhandlungen, S. 697 f.)

Seite 23

Es gibt auch Fotos. Auf einem davon bleibt eine deutsche Panzereinheit vor dem Laden Josip Hertmann und Sohn stehen. Die versammelten Zagreber glotzen erstaunt auf den Stahl. Es sind misstrauische Frauengesichter in der zweiten und verwirrte Männergesichter in der ersten Reihe zu sehen. Sie haben ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen und die Fäuste in die Taschen ihrer Ballonmäntel geschoben. Sie tun nichts. Sie wundern sich nur.

Die Autorin bediente sich verschiedener Dokumente, Bilder und Videos, sie las einschlägige Geschichtsbücher (die sie im Roman in Fußnoten nennt) und führte Gespräche mit ZeitzeugInnen, die nicht nur aus ihrer eigenen Familie stammten. Eben diese Lektüren, die Erforschung der Geschichte Zagrebs und Kroatiens sowie die Gespräche spiegeln sich im Stil des Romans wider. Sajkos Sprache wirkt prägnant, verdichtet, bisweilen streng sachlich, dann wieder ironisch verspielt. Auch wenn sie eine Meisterin darin ist, mit wenigen Worten eine Szene hervorzuzaubern, halfen mir manchmal die Fotos aus dem Internet, um noch intensiver das Beschriebene vor Augen geführt zu bekommen. In diesem Zeitungsartikel über den Einmarsch der 14. Panzerdivision der Wehrmacht in Zagreb habe ich ein Foto gefunden, das zum oben aufgeführten Zitat passt. Weitere Fotos, die ebenfalls die 14. Panzerdivision bei ihrem Eintritt in die Stadt zeigen, sind hier zu finden.

Seite 31

Doch zehn Tage später ließ Hitler die Hauptstadt bombardieren, der junge König türmte, das Königreich kapitulierte, Zagreb füllte sich mit Panzern, Kroatien wurde okkupiert … nein, nein, nein! Kroatien wurde NICHT okkupiert, sondern befreit!

Es gibt einige Foto- und Videodokumente über die ersten Tage der deutschen Okkupation. Ich kam nicht umhin mich zu fragen: Was haben sich eigentlich diese adretten deutschen Soldaten dabei gedacht, als sie so gelassen in die Kamera ihres Kameraden lächelten oder ihm zuwinkten? Sie scheinen sich in Zagreb wohlzufühlen, die Passanten wirken auch gelassen und sehen gepflegt aus:

Dabei ist jene Zeit eine Zeit der Schreckensherrschaft der Ustascha und ihres Führers Ante Pavelić, dessen Reden seltsam peinlich anmuten, wie zum Beispiel jene, in der er die Frage stellt, „wer also das stärkste Volk“ sei:

Seite 34

Als das Skandieren abflaut, setzt der Führer seine Erläuterungen darüber fort, dass die Kroaten seit jeher versklavt waren, Mächten und Gewalten unterworfen, die beabsichtigten, das ganze Volk auszulöschen. Aber dann sei der neue Weltkrieg gekommen. Zu unserem Glück, so betont der Führer, da Europa nicht auf der Basis papierener Friedensverträge bestehen könne, sondern nur aufgrund der lebendigen Bedürfnisse und Kräfteverhältnisse, die zwischen den einzelnen Völkern herrschten, und es müsse geprüft werden, welches unter ihnen das stärkere sei. Dieselbe Frage stellt er auch dem Publikum:
– Wer ist also das stärkste Volk?

Doch das Publikum schweigt. Es ist eine rhetorische Frage.

Die Rede Pavelićs, die Ivana Sajko zitiert, kann man in dieser Dokumentaraufnahme hören und sehen. Neben dieser Aufnahme hat Sajko schriftliche Dokumente verwendet, in denen der Wortlaut der Rede notiert ist. Die Autorin gibt getreu auch die Reaktionen des Publikums wieder. Diese gesamte Szenerie wirkt auf mich wie eine armselige provinzielle Kopie ähnlicher Versammlungen, die im Dritten Reich mit Hitler in der Hauptrolle abgehalten wurden.

Seite 39f.

Man hat den Genossen Rade Končar verhaftet. Das italienische faschistische Militärgericht hat ihn zum Tode verurteilt. Es wird betont, dass seine Haltung heldenhaft war und dass er es abgelehnt hat, eine Begnadigung zu erbitten. Er wurde am 22. Mai 1942 in der Nähe von Šibenik erschossen. Seine Mitkämpfer werden ihn im Jahr 1943 posthum zum Nationalhelden erklären, die Fabrik, in der er einst gearbeitet hat, wird 1946 nach ihm benannt, und 1952 wird eine Statue nach seinem Abbild auf dem Werksgelände aufgestellt, 1973 wird sie auf einen hohen Steinsockel vor dem neuen Werksverwaltungsgebäude versetzt, wo sie bis 1993 stehen wird, dann wird die Statue vom Sockel genommen und im Hinterhof der Fabrik gelagert, da es zu einem kriegerischen Konflikt zwischen Kroaten und Serben im Kroatienkrieg gekommen ist und Rade Končar serbischer Herkunft war, im Jahr 1997 wird schließlich aus dem Steinsockel ein Denkmal für jene Arbeiter geschaffen, die im Heimatkrieg gefallen sind, und im Jahr 2000 wird aus dem Namen der Fabrik der Vorname »Rade« entfernt, da er allzu serbisch klingt.

Das Land ist tief gespalten, die Bevölkerung teilt sich in Ustasche, Partisanen und die schweigende, abwartende Mehrheit.

Die Gestalt des Widerstandskämpfers Rade Končar, der 1943 von italienischen Faschisten verhaftet, verurteilt und erschossen wurde, und der Umgang mit der Erinnerung an seine Person, illustriert nicht nur die Brüche in den ideologischen Konstruktionen verschiedener Epochen, sondern auch den Aufstieg und den Zerfall Jugoslawiens und folglich auch der Industrie, die mit dem jugoslawischen Sozialismus verbunden war, da eine der größten Fabriken Kroatiens und Jugoslawiens seinen Namen trug.

Seite 86

– Sie sind alle gleich.

So kommentiert es Kaja. Sie erzählt mir, dass sie mit den Arbeitern aus ihrer Schicht zum feierlichen Empfang gegangen sei. Sie hielten sich an den Händen und sangen. Die Partisanenkolonnen kamen über die Save-Brücke, und von dort wurde der Marsch zum zentralen Marktplatz fortgesetzt. Sie beschreibt mir die mit Blumen geschmückten Fenster und die Laternen. Die Gärten waren bis zur letzten Blüte leer gepflückt. Blumen schmückten auch Autos, Lastwagen und sogar Pferde. Ich frage sie, ob sie sich über das Kommen der Partisanenarmee gefreut habe.

Die Antifaschisten haben gesiegt. Die Stadt, die gesehen hatte, wie die Deutschen in die Stadt kommen, sieht jetzt die Sieger des Kriegs in die Stadt einmarschieren – die Partisanen:

Es sind neue Zeiten, und in ihnen gibt es auch eine neue Ästhetik:

Seite 107f.

Sie hat diesen Film schon einmal gesehen. Die Handlung spielt sich in Dalmatien ab. Slavica und Marin versuchen mit einer Gruppe Gleichgesinnter, ein neu gebautes Fischerboot zu den Partisanen zu bringen, um sich so dem Aufstand anzuschließen. Doch schon beim ersten Versuch fallen sie dem Feind in die Hände. Nachdem die Partisanen sie befreien, können sie sich endlich dem Kampf anschließen. Bei der Verteilung der Waffen bekommt Slavica eine Pistole. In der Absicht, sie vor der Gefahr zu schützen, meint ihre Mutter, dass Frauen nicht in die vorderste Kampflinie gehören. Der Kommandant antwortet ihr:

– Sie hat Hände und einen Kopf, sie hat das Recht, sich zu verteidigen.
In einem der Einsätze kommt Slavica unter Deck ums Leben. Der Tod der Protagonistin wird von hinten gefilmt. Ihr Gesicht ist nicht zu sehen.

Zu der neuen Ästhetik gehörten auch einige der Plastiken, die dem Befreiungskampf gewidmet waren. In einer Szene wird die kindliche Respektlosigkeit beschrieben, die bereits den Keim der künftigen Niederlage des kommunistischen Regimes in sich trägt.

Seite 100f.

Strijeljanje talaca (Das Erschießen der Geiseln) von Frano Kršinić ist ein typisches Beispiel für eine monumentale Skulptur zum Thema Volksbefreiungskampf. Nach der Kranzniederlegung und der Schweigeminute weiht die Lehrerin die Klasse in die symbolische Bedeutung der künstlerischen Darstellung ein. Im Zentrum des Denkmals versucht eine Gestalt von titanischen Proportionen, die dicken Seile, mit denen ihre Handgelenke gefesselt sind, zu zerreißen. Mit ihr verbunden ist eine athletisch gebaute Heldin, die der Allegorie der Freiheit von Delacroix ähnelt. Das Kleid ist entlang ihrer Oberschenkel zerrissen, es ist über eine ihrer Brüste gerutscht und legt diese frei. Ihr Gesicht klafft wie ein Loch. Das ist ein Schrei. Ringsum dieses Paar fallen gerade fünf gigantische Figuren unter dem feindlichen Beschuss. Doch wenn einer fällt, steht der Nächste schon wieder auf, nimmt sich die Stiefel und das Gewehr von dem Gefallenen und geht weiter. Denn genau das ist der Weg, auf dem der Sieg voranschreitet. Zwei Schritte nach vorn und einer zurück. Er bewegt sich langsam und mühsam wie ein Chamäleon. Doch jeder neue Schritt wird länger, und der Stiefel, der ihn geht, wird immer schwerer. Das ist die Botschaft, erklärt die Lehrerin, während hinter ihrem Rücken eine Gruppe von mutigeren Schülern versucht, die herausschauende Brust der Heldin von Kršinić zu berühren. Sie sind auf das Denkmal geklettert, indem sie sich zunächst auf den halb liegenden Körper des sterbenden Partisanen ganz rechts gestellt haben, dann sind sie auf die Schulter der Bäuerin geklettert, die ihn stützt, um dann von ihrem Kopf auf die gefesselten Handgelenke der zentralen Gestalt zu rutschen, von wo aus sie die ganze Klasse unterhalten können. Das Lachen der Mädchen bringt sie dazu nachzuschauen, was sich hinter ihrem Rücken abspielt.

Seite 117

[…] und nach der Gründung des Stadtparlamentes in der Nachkriegszeit wurde auch offiziell die Entscheidung getroffen, die Stadt auf das südliche Ufer des Flusses auszudehnen, und diese Aufgabe wurde zur städtebaulichen Priorität erklärt und zum anspruchsvollsten Prüfstein des Fortschritts. Auf all jenen ausgehobenen Fundamenten werden bald die Vertikalen der neuen Hochhäuser emporstreben, die Baukräne werden weiterziehen zu den schlammigen Wiesen am Horizont, sie wird sie gut sehen können, da sie auch weiterhin an demselben Fenster stehen wird, und dann wird sie sich wieder hinsetzen.

Der große Stolz der sozialistischen Gesellschaft stellte der Ausbau einer modernen Stadt dar. Dass genau das zur Katastrophe und zur Flut, sieben Jahre nachdem dieser dokumentarische Propagandafilm über Zagreb im Jahr 1957 aufgenommen wurde, führen wird, wollte niemand gewusst haben, obwohl die Menschen der vergangenen Jahrhunderte immer weit entfernt vom Ufer der Save siedelten, doch diese alte Weisheit wurde vermutlich als überholt betrachtet:

Seite 144

Die Save hatte ein Gebiet überflutet, dass vierzehn Kilometer lang und vier Kilometer breit war. Ein Drittel der Stadt Zagreb stand unter Wasser, ungefähr fünfzehntausend Wohngebäude, davon zehntausend vollständig unbewohnbar, mehr als vierzigtausend Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen, ungefähr einhundertzwanzig Firmengebäude wurden schwer beschädigt, ungefähr dreihundertfünfzig Straßenkilometer wurden überflutet … und so weiter. All das meldete man in den Nachrichten. Auch die Namen der Toten wurden verlesen. Und man betonte, dass die genauen Todesursachen erst nach den Obduktionen bekannt sein würden. All das hörte sie, aber sie konnte es auch durchs Fenster sehen. Die stillen Tode der Nichtschwimmer. Die Dächer im Schlamm. Und die Äpfel.

Hier sind einige Bilder der Überflutung zu sehen. Auch dieses Video zeigt die von der Autorin gezeichneten schweren Folgen.

Aber nicht nur die Naturkatastrophen setzten der neuen Gesellschaft zu. Auch andere Kräfte versuchten Jugoslawien zu zerstören. Im Fall des kroatischen Dissidententums vermischten sich der Wunsch nach mehr Demokratie und der Wunsch nach der nationalen Befreiung und Selbständigkeit. Leider neigten die kroatischen Emigranten zu radikalen Ideologien und zu radikalen Taten, so wurde aus dem Wunsch nach mehr Demokratie ein glühender Antikommunismus und aus dem Wunsch nach der nationalen Selbständigkeit ein erbitterter antijugoslawischer Nationalismus. Und aus dem Einsatz für mehr Freiheit entstand der Terrorismus.

Seite 160

In den Nachrichten wurde gemeldet, dass eine Gruppe kroatischer Emigranten ein Passagierflugzeug der Linie Chicago–New York entführt habe. Es gelang ihnen, durch Erpressung das Flugzeug nach Europa umzuleiten – sie hatten Sprengsätze am New Yorker Hauptbahnhof deponiert –, und sie planten antijugoslawische Flugblätter abzuwerfen.

Hier ein Foto der Flugzeugentführer.

Seite 130

Im Jahr 1990, beim 14. Außerordentlichen Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, werden die Delegierten der Sozialistischen Republik Slowenien aufgrund von Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Vorschlags, ein Mehrparteiensystem zu etablieren und die Beziehungen zwischen den föderalen Einheiten im Einklang mit der Verfassung von 1974 zu restrukturieren, die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien verlassen. Die Delegation der Sozialistischen Republik Kroatien wird sich ihnen anschließen. Und dann die Delegation der Sozialistischen Republik Mazedonien. Und dann die Delegation der Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina. Es wird eine fünfzehnminütige Pause verkündet, die niemals enden wird.

Einfacher hat noch nie jemand den Zerfall Jugoslawiens beschrieben:

Es wird eine fünfzehnminütige Pause verkündet, die niemals enden wird.

Ich teile die Meinung von Ivana Sajko: Der Beginn des Zerfalls ist unbedingt im Scheitern des 14. Außerordentlichen Kongresses des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens zu sehen. In diesen kurzen Dokumentarfilmen kann man die Atmosphäre spüren, die zum Ende der sozialistischen Gesellschaftsordnung und dann zum blutigen Krieg geführt hat.


Hörprobe: Nora Gomringer liest einen Auszug aus Familienroman.

Alida Bremer

Alida Bremer wurde 1959 in Split/Kroatien geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik und promovierte im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster. Für Voland & Quist übersetzte sie Bücher von Edo Popović, Roman Simić und Ivana Sajko. Für Liebesroman wurde sie als Übersetzerin mit dem Internationalen Literaturpreis 2018 des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

Familienroman entstand mit Unterstützung durch das Programm Kreatives Europa der Europäischen Union.

Ziemowit Szczerek: „Sieben“, Übersetzung: Thomas Weiler

Fußnoten entlang der Sieben

Ziemowit Szczerek greift auch in Sieben – Das Buch der polnischen Dämonen (OT: Siódemka), seiner 2014 im Krakauer Verlag Korporacja Ha!art erschienenen Tour de Force durch die polnische Provinz, lustvoll in die Mottenkiste, in der das kulturelle Gedächtnis der Nation schlummert. Was dem polnischen Publikum da an muffig-süßlich, schmerzlich Vertrautem um die Ohren fliegt, muss sich der entfernteren Leserschaft bisweilen entziehen. Mag sein, dass auch dem Übersetzer noch manches durch die Lappen gegangen ist. Die Anmerkungen im Anhang der gedruckten Fassung sollen ihren Teil zur Kontextualisierung beitragen. Aber in diesem Text klingt so viel an, dass es lohnend erscheint, sich auch noch auf die Notenspur zu begeben. Die hier folgenden Ton- und Bildschnipsel, gespeist aus den Recherchen des Übersetzers, wollen Anstoß geben, dem Text auf weiteren Ebenen nachzuspüren.

Seite 7

Seven deadly sins,
seven ways to win,
seven holy paths to hell,
and your trip begins.

Seven downward slopes,
seven bloodied hopes,
seven are your burning fires,
seven your desires …


Iron Maiden: Moonchild

Diese Zeilen aus Moonchild, dem Eröffnungsstück des Albums Seventh Son of a Seventh Son (1988) von Iron Maiden sind dem Roman vorangestellt. Los geht’s mit Zahlenmystik, bösen Geistern und Heavy Metal, die Höllenfahrt kann beginnen, hinein in ein Land, das alljährlich den Schülermalwettbewerb „Die sieben Hauptsünden“ auslobt.

Seite 10

Dir ganz persönlich, Paweł, gefällt diese Dunkelheit und dieses geisterhafte Schlammgeschmatze, die Zeit, in der die zerlumpten slawischen Gottheiten und die verlotterten slawischen Dämonen der Erde am nächsten sind, während Polen, dein Heimatland, außerstande ist, das dunkle Geschmatze in den Griff zu bekommen, das wirst du zugeben. »Das Assipack schmatzt sich durchs Dauerdunkel«, um mit einem Quasi-Klassiker zu sprechen.

Der Quasi-Klassiker ist der polnische Punkrocker Kazik Staszewski, die Zeile stammt aus dem Stück Nie lubię już Polski (Ich mag Polen nicht mehr) vom Album Oddalenie (1995). Hier besingt er den Herbst, der nicht golden ist, sondern siffig.

Seite 13f

Zum Beispiel vor dem Asmodeusz in der Starowiślna, standen [jede Menge Normalometaller] im Kreis und ließen die Matten wirbeln wie Windmühlenflügel, und auf dem Boden, mittendrin, lag ein kleiner MP3-Player mit eingebautem Lautsprecher und brüllte wie ein Bär.
»Wor-sou sitti ät wor«, brüllte er.
»Woises fromm andergrand«, brüllten die Metaller. »Vispers of friedem!«
»Nein-tien-forti-for…«
»Hełp det näver käm!«
Dann vereinigten sie sich zu einem hysterischen, fast am Falsett kratzenden Schrei:
»Warszawo, waaaalcz!«


Zeilen aus dem Song Uprising der schwedischen Band Sabaton vom Album Coat Of Arms (2010), einem Stück über den Warschauer Aufstand der Polnischen Heimatarmee gegen die deutsche Besatzungsmacht in Warschau vom 1. August bis zum 1. Oktober 1944. Der Kampfruf bedeutet schlicht: „Warschau, kämpfe!“ Die Kombination aus Rockkonzert und Dokufiktion im Video mag befremdlich sein, die Musik verfehlt aber offenbar nicht ihre Wirkung, wenn der entsprechende Alkohol- oder Elixierpegel erreicht ist.

Seite 16

Der Barmann war schon voll und empfahl eine neue Version des Wilden Hundes, die er, wie er behauptete, eben erst erfunden hatte, »für Hardcoreler«, wie er es ausdrückte. Scheinbar nichts Besonderes, der Klassiker, unten Himbeersirup, also Rot, oben Weiß, aber kein Wodka, sondern reiner Spiritus mit einem Tropfen Tabasco für den Geschmack. Das könnte man anzünden, meinte er, wie die Drinks in Asche und Diamant, weil Spiritus brennt, im Gegensatz zu Wodka. Er stellte die Kurzen nebeneinander auf den Tresen und zückte ein Feuerzeug.
»Zum Gedenken an …«, er sah zu Radosław, »aha, Józef Piłsudski.« Der erste Drink brannte. »An«, er sah sich um, erblickte Rumburak, »aha, an Václav Havel.« Die zweite Flamme.


In Andrzej Wajdas Verfilmung des Romans Asche und Diamant (Popiół i diament von Jerzy Andrzejewski (1958) zündet Maciek Chełmicki (Zbigniew Cybulski) zum Gedenken an fünf gefallene Mitstreiter fünf mit Spiritus gefüllte Gläser an. Die Gläser sechs und sieben bleiben für ihn selbst und für Andrzej (Adam Pawlikowski) übrig. Der Roman liegt auch auf Deutsch in einer Übersetzung von Henryk Bereska vor.

Seite 17

»Seht ihr, der hat gleich erkannt, dass ich Vášek Havel bin, mit dem ich mal in Hradčany eine geraucht hab«, sagte Rumburak zu euch.
»Das hab ich«, erwiderte der betrunkene Barmann, »weil ich tschechophil bin. Ich hab sämtliche Zelenka-Filme zu Hause und die gesammelten Dramen von Vášek Havel und als Klingelton auf meinem Handy ein Lied aus
Limonaden-Joe. Sou far tu ju ai mäi. Deshalb arbeite ich auch in der Kneipe, die Kneipe ist nämlich das Allerheiligste für einen echten Tschechophilen, Wohlsein!«

Karel Gott schmettert in der tschechoslowakischen Westernparodie Limonádový Joe aneb Koňská opera (1964) von Oldřich Lipský dieses Lied mit dem schönen Text „So far to you I may for tonight me to say …“

Seite 18

Du bliebst allein zurück mit Józef Piłsudski und seinen angesengten Schnurrhaaren, und ihr saht euch, eine Kippe im Mund, die Show vor dem Piękny Pies an und redetet aus Langeweile irgendwann über Russland, denn wenn es nichts zu reden gibt, kann man immer gut über Russland reden.
»In Russland ändert sich nichts und wird sich auch nie was ändern«, behauptete der Untote Piłsudski, der Russistik an der Jagiellonen-Uni studiert hatte. »Schon der Marquis de Custine hat geschrieben, wie es ist, und so ist es immer noch.«

Titelblatt von Adolphe de Custines Rußland im Jahre 1839 (OT: La Russie en 1839). Quelle: Uni Münster

Man beachte, dass der Name des Übersetzers Dr. August Diezmann auf dem Titelblatt des ersten Bandes der Leipziger Erstausgabe von 1843 deutlich stärker hervorgehoben ist als der des französischen Autors.
Stellenweise lässt sich Custine auch ganz gut auf die Szczerek-Lektüre übertragen:
„Man kann mir vielleicht Vorurtheile zur Last legen, gewiß aber nicht den Vorwurf machen, daß ich die Wahrheit wissentlich entstelle.“
„Jede Mißbilligung halten sie [„diese Orientalen“, d.s. die Russen] für einen Verrath; jede harte Wahrheit nennen sie eine Lüge und sie werden deshalb schwerlich erkennen, welche zarte Verwunderung unter meinem scheinbaren Tadel und welches Mitgefühl, in gewisser Hinsicht, unter meinen strengsten Bemerkungen liegt.“ (Vorwort)
1844 erschien im selben Verlag Eine kritische Beleuchtung obgenannter Schrift von Wilhelm von Grimm. Der Rezensent (nicht zu verwechseln mit dem Märchen- und Wörterbuch-Grimm) meint, es sei ihm ein Leichtes, „[d]ie Unwahrheiten und fälschlichen Berichte des Herrn Custine über Rußland zu widerlegen, […] da ich, zwar ein geborner Deutscher, in Rußland erzogen wurde und vermöge meiner dasigen Stellung das gesellige Leben in den verschiedenartigsten Kreisen kennen lernte.“ Doch greift auch er sogleich zu Klischee und Pauschalurteil: „Freilich muß man bedenken, daß überhaupt den Franzosen das genaue und mühsame Forschen über einen Gegenstand fast gänzlich abgeht, so wie ihr ganzes Wesen flüchtig und oberflächlich ist. […] Herr Custine muß wahrscheinlich ein Hypochonder sein und allem Vermuthen nach oft an Nervenstörungen leiden, wodurch sein Verstand und seine Intelligenz oft getrübt erscheint, und deshalb hat er unser ganzes vollstes Mitleid erregt. Er wiederholt sich sehr oft und plaudert so viel ungereimtes, läppisches Zeug unter einander, daß wirklich eine französische Zunge dazu gehört, um solche einfältige Schwätzereien auszusprechen.“

Seite 28

Du suchst dir den nächsten Sender, eine Talkshow, der Moderator analysiert Radiowerbung und kommt auf den Trichter, dass in Polen vor allem Mittel gegen Verdauungsstörungen, Sodbrennen und Blähungen beworben werden. Als Beleg bittet er den Regisseur, den er mit »Teddy« anspricht, eine Beispielwerbung einzuspielen, und Teddy spielt: »Bist du aufgebläht wie Hölle, spielt im Bauch die Blaskapelle.«

Dieses Jingle gibt es tatsächlich, nachzuhören hier:

Aber auch das Deutsche kennt das Genre der Verdauungslyrik und hat Preziosen hervorgebracht wie „und Hämorrhoiden geben Frieden“.

Seite 29

»Heut’ ist mein letzter Sodbrand« (auf die Tangomelodie von Der letzte Sonntag), »ich will dich nicht mehr leiden, morgen werden wir scheiden für alle Zeit. Fräß’ ich auch hundert Broiler, hätt’ ich doch keinen Sodbrand – das ist gewiss.« Nach einer dramatischen Pause setzt der Sänger mit noch dramatischerer Gänsehautstimme wieder ein: »Denn ich hab mein Sodigast, es ist für mich geschaffen, Sodbrand strecke die Waffen, für alle Zeit.«

Der letzte Sonntag
(To ostatnia niedziela), eine Komposition von Jerzy Peterburski, wurde bekannt durch eine Einspielung von Mieczysław Fogg aus dem Jahr 1935/36. Dass im Deutschen „Sonntag“ und „Sodbrand“ so schön assonnieren, nahm der Übersetzer dankbar hin.

Seite 32

Und du siehst das erste der sieben Sieben-Wunder. Das erste Wunder der Sieben.
Du fährst eben unter eine Eisenbahnbrücke, auf der Sprayer ein Bild von König Jan Sobieski und der siegreichen Schlacht am Kahlenberg hinterlassen haben. Das gefällt dir: Die Schlacht bei Wien auf einem scheußlichen Trumm von Betonviadukt […].

Seite 33

Den Parkplatz entlang erstreckt sich Betonpflaster, wahrlich, ich sage euch, sollte in Polen dereinst eine Revolution ausbrechen, wird ihr Symbol der Pflasterstein sein.
Wir haben Flaschen mit Benzin und Pflastersteine, alles nur für dich, nur für dich.


Titelzeile aus dem Song Butelki z benzyną i kamienie der Alternative-Rock-Band Cool Kids of Death aus deren Debütalbum (2002). Das Pflaster hat allerdings der Autor noch draufgeklebt, die Cool Kids werfen mit simplen Steinen.

Seite 35

Und in diesem ganzen Wirrsal steht, man stelle sich vor, der Hexer Geralt und hält den Daumen raus.
Du machst Augen wie Mandarinen, siehst noch mal hin und willst es nicht glauben: Geralt. Langes weißes Haar, die lederne Hexerkluft, sogar der Schwertgriff ragt über der Schulter auf, nur seine Stute Plötze ist nirgends zu sehen, aber wahrscheinlich fährt Geralt genau deshalb per Anhalter.


Geralt von Riva, die Hauptfigur der Hexer-Saga des polnischen Fantasy-Autors Andrzej Sapkowski, kennt man hierzulande vielleicht eher aus den Videospiel-Adaptionen, die als The Whitcher erschienen sind. Dabei gibt es DIE SAGA auch in der deutschen Übersetzung von Erik Simon. Hier das Porträt eines Cosplayers, auch wenn der nicht den traurig-verkaterten Gerardblick vorweisen kann.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 43f

Jedenfalls lässt er die Platte aufblitzen wie sonst der Hexer sein Schwert und will sie mit einer geschmeidigen Bewegung in den Player gleiten lassen, aber da ist noch eine andere drin, und er muss erst auf EJECT drücken, warten, bis sich die alte mit einem leisen Summen herausgeschoben hat, und kann seine erst anschließend einschieben, was die Geschmeidigkeit dieser beschissenen Bewegung doch empfindlich stört. Dann wählt er auf dem Display noch die passende Nummer.
»Bappteist in faja, forti tu wann«, dröhnt es aus den Lautsprechern.


Stück der schwedischen Metalband Sabaton (40:1) über die Schlacht bei Wizna im September 1939 vom Album The Art of War (2008). Der Titel spielt auf das Kräfteverhältnis von Angreifern zu Verteidigern an.

Seite 45

»Fledermäuse! Überall Fledermäuse! This is bat country! Du bist auch …«, er starrt dich entsetzt an, »eine bat!« Der Hexer Gerard reißt den Sicherheitsgurt los, reißt ihn mit gewissermaßen übermenschlicher Kraft raus, ohne das rote Knöpfchen mit dem PRESS zu drücken, jaja, die Hexerelixiere, Stärke: plus eine Million, wirft sich plötzlich gegen die Tür und öffnet sie bei voller Fahrt. Du bringst den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen.

In der Anfangsszene von Hunter S. Thompsons Fear and loathing in Las Vegas (das schon für Szczereks Mordor kommt und frisst uns auf wegweisend war) sieht Duke im Chevy Kabrio auf dem Weg von Los Angeles nach Las Vegas unter Drogen Fledermäuse und versetzt einen Anhalter in Angst und Schrecken. Dazu brüllt der Kassetten-Rekorder Sympathy for the Devil. Ein Blick in die entsprechende Szene der Verfilmung von Terry Gilliam (1998) macht deutlich, wie geschickt Szczerek das Death Valley mit der polnischen Landesstraße Nr. 7 überblendet hat.

Seite 72f

Die Smakosz-Bar sieht aus wie eine Smakosz-Bar an der Landesstraße nur aussehen kann: Bogenfenster, weil das angeblich schöner ist, stilvoller, irgendwas, älter, mittelalterlicher. Wenn das so wäre, denkst du, wären sie perfekt auf das Mäuerchen abgestimmt, aber der orangefarbene Putz, den sie auf die gesamte Smakosz-Bar gekleistert haben, macht den Mittelaltereffekt wieder zunichte. Und das grüne Wellblechdach. Und das gelb-rote Schild. Und die Schwäne aus geweißten, filetierten Autoreifen auf dem Rasen.

Hier geht’s zu einem Tutorial, in dem mit englischen Untertiteln Schritt für Schritt erklärt wird, wie man einen alten Autoreifen in einen dekorativen Schwan verwandelt.

Seite 74

Du siehst dich um in dem dunklen, mit Holzbänken vollgestellten Raum. An einer Wand hängt die Vorkriegsdarstellung eines Schutzengels, der ein Kind vor dem Sturz von der Klippe bewahrt, dabei hätte man ihm schon dafür, dass er das Kind auf diesen gefährlichen Felsen hat hochklettern lassen, den Arsch versohlen müssen, dass die Federn fliegen.

Matthäus Kern: Schutzengel, 1840, Aquarell auf Papier. Quelle: Wikimedia Commons

Seite 78

»Und wie ich nach Iłża gefahren bin, ich weiß nicht, warum ich immer am meisten nach Iłża fahren wollte, vielleicht weil bei mir zu Hause so eine Kartinka aus Iłża an der Wand hängt, da hat es das Schloss auf dem hohen Fels, da hat es das kleine Gorodok hinter der Mauer, den breiten Fluss, ich habe Iłża immer am schönsten vorgestellt, ja, so eine jewropäische Idyllie, wot …«, seufzt sie.

Die „Kartinka“ dürfte eine Reproduktion des 1696 in Nürnberg von Erik Dahlbergh und Samuel Pufendorf erstellten Stiches von Ÿltze sein, der auch als Digitalisat der Polnischen Nationalbibliothek vorliegt.

Seite 84

Kühlerhaube und Scheinwerfer sind zerdeppert. Beide Vorderreifen sind irgendwie platt, seufzend schaust du dir das kleine Kreuz, das du umgemäht hast, genauer an. Adrian Maciąg wirft dir von seinem Foto einen vorwurfsvollen Blick zu, ein kleiner, finsterer Tyrann. »Zur hellsten Mittagsstunde erlosch für ihn die Sonne«, steht unter dem Foto, und weiter: »Ein neuer Engel ist im Himmel.«
Alles klar.
Das Wegkreuz liegt ein Stückchen weiter weg. Jesu Hände haben sich gelöst, und er hängt jetzt, genau wie in Asche und Diamant, mit dem Kopf nach unten.


Wieder ein ikonisches Bild aus Andrzej Wajdas Verfilmung von Asche und Diamant, das übrigens in der Romanvorlage so nicht vorkommt. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Szene gleich zu Anfang zu sehen ist, wenn Martin Scorsese über „Masterpieces of Polish Cinema“ spricht. Sie ist auch auf einigen Filmplakaten verewigt.

Seite 97

Und der polnische Adel eiferte dem Schah von Persien ja nach, also versuchst du sie dir jetzt vorzustellen, wie sie auf dem Sieben-Vorläufer von Warschau nach Krakau reiten und andersrum – auf Kamelen mit dreckverschmierten Hufen, knietief im Matsch, dem polnischen Nationalsymbol, und auf ihren Kamelen, denkst du dir, den Asphalt der Landesstraße Nr. 7 vor Augen, müssen sie hier vorbeigekommen sein, vorbeigeritten, schnauzbärtig, in gefiederten Pelzmützen, dieselben polnischen Gesichter, die dir tagtäglich im Laden, im Bus, im Büro, auf dem Amt begegnen, dieselben, exakt dieselben, bloß eben mit ihren kranken Zobelmützen, Schnurrbartspitzen bis auf die Brust, eine Tolle auf den ansonsten geschorenen Schädeln, Słucker-Gürtel um die Hüften, die schweren Mäntel – du schaust auf den Asphalt der Straße Nr. 7, auf die vorbeifahrenden Autos, und du kannst dir das einfach nicht vorstellen.

Da steht er auf der Sieben, der Noble Polonais in seinen gelben Stiefeln, mit Gürtel und Karabella, das Kamel ist schon ein paar Schritte weiter. Die kolorierte Darstellung nach Jan Piotr Norblin entstammt der Sammlung Choix de différens costumes polonais, erschienen 1817 in Paris.

Seite 99

Ein Nysa. Aufgemotzt mit allen Schikanen. Getunt. Auf der Fahrertür ein Sticker mit glänzenden, stylishen Buchstaben: NYSA LUZIFER 2.0.
Wahnsinn, denkst du, wann hab ich das letzte Mal einen Nysa gesehen?


Ein Nysa-Kleintransporter im Einsatz, aufgenommen 1980 in Poznań.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 109f

»Außerdem hat der Typ, hehe, auch spannend, einen Trupp Raubritter.«
»Einen Trupp was?«
»Raubritter.«
»Was denn für Raubritter?«
»Hast du Kajko und Kokosz nicht gelesen?«
»Klar, Mann!«
»Na eben, Raubritter hat der.«
»Was soll denn das für ein Scheißraubrittertrupp sein?«
Jetzt geht dir dieser Ardian mit seinen Knickerbockern und Schottenstrümpfen aber echt auf den Geist. »Wie Hegemon, oder was?«
»Genau«, antwortet Ardian und sortiert seine Ausdrucke.
»Da«, hält er dir einen hin, »schau’s dir an.«


So sehen die Raubritter aus den Kajko und Kokosz-Comics von Janusz Christa aus: gehörnte Helme, Tunika und schwarzes Riemenkreuz. Offenbar hat sich Hieronymus Łycor hiervon für die Kostümierung seiner Raubritter direkt inspirieren lassen.

Seite 111

Świteź fährt also mit gut hundert Sachen nach Książ Wielki rein. Die Fenster sind halb geöffnet. Aus dem Lautsprecher auf dem Dach dröhnt Musik. Die, Die, My Darling von den Misfits.
»Die, die, die, my darling!«, röhrt der aufgepumpte Zwerg Glenn Danzig aus dem Lautsprecher. »Just shut your pretty eyes! I’ll be seeing you again! I’ll be seeing you – in hell!«


Glenn Danzig (eigtl. Glenn Allen Anzalone), Frontmann der US-Punkrockband Misfits, kompensiert geringe Körpergröße durch Muskelmasse. Die, Die, my darling erschien 1984 als EP, nachdem Danzig die Misfits schon verlassen hatte.

Seite 113

»Auf ›Tiger‹ schießen wir mit Vis-sen«, stimmt, sagen wir, Udai, das bekannte Lied an.
»Warschauer Burschen sind feine Kerls, jawohl!«, singt, sagen wir, Kusai weiter.
»Hej, Obacht, Freunde, und die Ohrn gespitzt«, grölen sie nun im Duett.
»Die, die, die, my darling«, grölt Glenn Danzig.


Die Pistolet Vis wz. 35, eine Selbstladepistole aus der Waffenfabrik Radom, war im Zweiten Weltkrieg die Standard-Ordonnanzwaffe der Streitkräfte Polens. Udai und Kusai schmettern hier bekannte Zeilen aus dem patriotischen Lied einer polnischen Pfadfindereinheit, die 1944 im Warschauer Aufstand kämpfte. Der Text stammt von Józef Szczepański, mit „Tiger“ sind die Panzerkampfwagen der Wehrmacht gemeint. Hier eine Aufnahme, die das Museum des Warschauer Aufstands zur Verfügung stellt.

Seite 116

Aus unerfindlichen Gründen bist du felsenfest davon überzeugt, dass es der Waweldrache ist. Nein, nicht aus unerfindlichen. Er kriecht zwar, ist groß, grün und geschuppt, schleift seine Wampe über den Boden und zertrampelt die Autos auf dem Parkplatz, aber auf seinem Kopf sitzt die unverkennbare karierte Ballonmütze. Du wartest nur darauf, dass auch noch Bartłomiej Bartolini und Professor Gąbka angehüpft kommen, aber nichts dergleichen geschieht.

Der sagenhafte Drache soll in einer Höhle unter dem Wawelhügel am Krakauer Weichselufer gehaust haben. Stanisław Pagaczewski hat ihn in seinem Kinderbuch Porwanie Baltazara Gąbki (Die Entführung des Baltazar Gąbka, 1965) verarbeitet, der Koch Bartłomiej Bartolini mischt dort auch noch mit. Illustrator Alfred Ledwig hat dem Drachen die charakteristische rot karierte Ballonmütze verpasst, dazu Kniestrümpfe mit Schottenkaro wie Ardian.
Hier ein Auszug aus der Zeichentrickadaption von 1969/70.

Seite 121

Du weißt auch, ohne zu wissen, woher, aber du weißt, dass du hier, in diesem brennenden Gebäude, etwas finden wirst, etwas, das dich errettet. Einen Ausweg aus dieser, das wirst du zugeben, komplett idiotischen Situation, in die du Volltrottel dich zu manövrieren geruht hast. Ganz ehrlich, du bist hier rein wie in einen antiken Tempel aus einem Buch von Robert Ervin Howard. Und du kannst kaum erwarten, wie es nach der nächsten Ecke weitergeht.

Der US-Amerikaner Robert E. Howard (1906-1936) war ein Autor von Low Fantasy- und Abenteuergeschichten, die er für diverse Pulp-Magazine schrieb. Zu seinen bekanntesten Figuren gehört Conan der Cimmerier. Hier das Cover der Weird Tales-Dezemberausgabe von 1935.

Seite 123

An den Wänden hängen Gemälde. Du leuchtest sie an. Auf allen ist, so dein erster Gedanke, der Schauspieler Cezary Żak zu sehen. Erst später wird dir klar, dass das Hieronymus Łycor sein muss. Gemalt von der ungelenken Hand eines Provinzmalers, gegen den die Kunden, die ihre Bilder am Florianstor ausstellen, allesamt Leonardos sind. Auf jedem Bild trägt Łycor eine andere Tracht aus einer anderen Epoche.

Auf diesem Bild ist der Schauspieler Cezary Żak (geb. 1961) zu sehen, er trägt eine Tracht aus einer anderen Epoche.

Seite 124

Der kleine Kegel deines Handylichtes erleuchtet eine menschliche Gestalt, die reglos vor dir steht.
»Itz«, sagt die Gestalt. »Potz. Trutz. Schreiße.«
Das Gesicht kennst du. Und die Mütze. Vom Zehn-Złoty-Schein.
»Nee, echt jetzt, ich geb auf«, sagst du resigniert. »Diese Elixiere sind ein Witz. Das geht zu weit. Mieszko I.? Ich werd verrückt!«


Hier findet sich eine Sammlung der Entwürfe Jan Matejkos zu seiner Galerie der Könige Polens. Mieszko I. ist dort natürlich prominent vertreten, seine Nachfolger, denen Paweł noch begegen wird, sind mit Ausnahme von Bezprym ebenfalls dargestellt.

Seite 151

Antoni reicht Hieronymus ein Bildchen mit dem heiligen Sebastian, nackt, muskulös, gefesselt wie zur BDSM-Session, von Pfeilen durchbohrt, die Heil’gen werden gern verwundet, und beide strecken die Zungen heraus und lecken den Sebastian ab.
»Ruhig ordentlich«, sagst du. »Je ordentlicher, desto besser. Saliva, Saliva!«


Dieser Sebastian von Albert Edwin Flury (2012) wird es wohl nicht gewesen sein, er hätte aber auch seinen Zweck erfüllt.

Seite 160

Was wird wohl, überlegst du dir, Łycor im Auto gehört haben?
Du startest die CD.
»Dorthin zu kommen ist kein Leichtes«, singt zu deinem Erstaunen Jacek Kaczmarski, »in stürmischen Weiten und brandender Zeit, und dennoch gibt es das Land Sarmatien, liegt irgendwo
Terra Felix
Tja.
Sarmatia.


Kaczmarski singt zur Gitarre den Refrain aus Na starej mapie krajobraz utopijny (1993), vermutlich im Duett mit Zbigniew Łapiński am Flügel. So wie hier.

Seite 174

Du kommst am »Schwarzen Punkt« vorbei, das Zeichen auf dem Schild sieht für dich immer aus wie ein plattgewalztes Männchen, und, notabene, auch hier hat jemand geschickt seine Werbung platziert: 4 Tote, 87 Verletzte … warnt die Firma JĘDR-POL. Productplacement zum Mit-der-Zunge-Schnalzen.

An Straßenabschnitten, auf denen es besonders häufig zu schweren Unfällen kommt, werden in Polen Schilder mit dem „Schwarzen Punkt“ aufgestellt. Auch die Zahl der an dieser Stelle tödlich verunfallten (links unten) und der Verletzten (rechts) wird darauf erfasst.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 175f

Du stehst vor dem städtischen Museum, in dem ein ganz besonderes Möbel aufbewahrt wird: die Kommode mit dem Einschussloch der Kugel, die Józef Piłsudski sich in die Birne jagen wollte, aber danebengeschossen hat. Ähnlich wie du ist der verehrte Großvater in Jędrzejów in die absolute Depression abgestürzt und wollte Schluss machen, hat es aber verbockt.
Du bist mal extra in dieses Museum von Jędrzejów gefahren, um dir das berühmte Loch anzuschauen, aber die Führerin dort hat sich mächtig ins Zeug gelegt dir zu erklären, das mit dem Kopfschuss sei alles Legende, Lügengeschichten, das Loch wär schon von einer Kugel, aber die wär zufällig losgegangen, beim Waffenputzen, und nicht von Piłsudski, sondern von irgendwem, also wie in dem Radio-Eriwan-Witz über die verschenkten Autos.

Kennen Sie den?
Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass sie in Moskau auf dem Roten Platz Autos verschenken?
Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja, nur handelt es sich nicht um Moskau, sondern um Sankt Petersburg und nicht um den Roten Platz, sondern um den Warschauer Bahnhof und nicht um Autos, sondern um Fahrräder. Und die werden nicht verschenkt, sondern gestohlen.

Seite 176

Du stelltest ihn dir vor, Piłsudski, wie er hier einzog – allerdings nicht auf seiner Kasztanka, sondern im Auto – in diese kleine Stadt, die trotz allem damals bedeutend besser ausgesehen hat als heute, zumindest hat sie nach etwas ausgesehen, hatte irgendein Aussehen, zumindest einen Markt und, hoho, sogar einen mit Pflaster, nicht wie anderswo, wo das Pferd fesseltief im Schlamm versank, Elbonien und so weiter.

Die Stute Kasztanka (1909/10-1927) gehört zu Marschall Piłsudski wie Rocinante zu Don Quijote oder Plötze zu Hexer Geralt. Hier sind beide in einer Aufnahme aus dem Jahr 1915 zu sehen. Ohne Schlamm.

Quelle: Wikimedia Commons

Seite 183f

Weißt du, ich setz mich zum Beispiel gern in mein Auto, ich hab mir nämlich kürzlich, jawoll, einen Dodge Challenger gekauft«, erzählt er stolz, »und Aaaabfaaaahrt Richtung Częstochowa, Meister.
Wir haben hier«, erzählt er immer noch stolz, »ein Stück Autobahn bei Jędrzejów. Na ja«, er rückt an seiner Mütze, »Schnellstraße, aber das kommt aufs Gleiche raus. Und dann fahr ich so, Fuß auf dem Gas, guck mir das so an und komme mir vor wie …«
»Und du kommst dir vor wie Kowalski.«
»Ja.« Er sieht dir aufmerksam in die Augen, fast argwöhnisch.
»Ich komme mir vor wie Kowalski.«
»Im Dodge Challenger.«
»Ja.«
»In den Staaten.«
»Ja.«


Vanishing Point (1973, Regie: Richard C. Sarafian) kam in die deutschen Kinos als Fluchtpunkt San Francisco (BRD) bzw. Grenzpunkt Null (DDR). Wer sich auch mal kurz fühlen möchte wie Abdel auf der Schnellstraße hinter Jędrzejów bzw. Kowalski (Barry Newman) im weißen Dodge Challenger, der gönne sich den Filmtrailer.

Seite 213

Der Herr wärmt die Fluren in sonnigem Glanz,
der Hirsch läufet frei durch den Wald.
Doch sammelt euch alle, der Sturm ist nah,
und morgen gehört uns die Welt.


Bajajs Hymnus ist aus allen möglichen patriotischen Gesängen zusammengeklittert, sein Grundgerüst bildet aber das Lied Der morgige Tag ist mein (Tomorrow belongs to me)aus dem Film-Musical Cabaret (1972). Nein, das ist keine Nazi-Hymne, auch kein deutsches Volkslied, die Musik stammt von John Kander, der englische Text von Fred Ebb. Auch in der deutschen Synchronfassung legt der Sänger Mark Lambert Schauspieler Oliver Collignon die deutsche Nachdichtung mit amerikanischem Akzent in den Mund. Den Urheber dieses deutschen Textes konnte ich leider nicht ausfindig machen. Die Melodie enthält aber Anklänge an die bekannte Vertonung von Heines Lied von der Loreley durch Friedrich Silcher von 1837. Auch auf musikalischer Ebene wurde also damals schon, bewusst oder unbewusst, mit Zitaten gespielt.

Seite 226

Du hörst Radio. Viel Verkehr. In beide Richtungen. Du fragst dich, ob sie fliehen werden. Wie 1939. Oder ob sie die Straßen blockieren. Erst mal, denkst du dir, fahren sie nach Hause, dann denken sie darüber nach, was zu tun ist. Fernsehen. Sich durch die News wühlen. Frontverlauf analysieren. Sich Gedanken machen.
Im Radio läuft in Dauerschleife Präsident Komorowski. Komorowski kann es sich nicht verkneifen, die Starzyński-Rede mit dem »Es ist also Krieg!« zu kopieren.


„A więc wojna!“ Wer in Polen an den Beginn des Zweiten Weltkriegs denkt, hat diese Sondermeldung des polnischen Rundfunks im Ohr. Sie stammt allerdings nicht vom damaligen Warschauer Stadtpräsidenten Stefan Starzyński, sondern wurde vom Schauspieler Józef Małgorzewski zwei Tage zuvor eingesprochen und am 1. September 1939 um 6.30 Uhr ausgestrahlt.

Seite 257

Du solltest auch nicht mehr erfahren, dass nachdem alles sich wieder beruhigt hatte, aus Opole der Superheld Wilq angeflogen kam, stocksauer, die Halbinsel-Hel-förmige Nase im Gesicht und das Schildkrötenlogo auf dem Kostüm, und dass er den Russen dermaßen auf die Fresse gegeben hat, dass es am Ende fast noch zur Annexion des Kaliningrader Gebiets durch die Woiwodschaft Opole gekommen wäre.

Auch den Superhelden Wilq muss man gesehen haben. Die Brüder Bartosz und Tomasz Minkiewicz haben die Comicfigur 2003 aus der Taufe gehoben, später hat es der Superantiheld aus der oberschlesischen Provinz dank Leszek Nowicki auch noch in die Animation geschafft.


Thomas Weiler

Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Oleg Senzow.

Sieben entstand mit Unterstützung durch das Programm Kreatives Europa der Europäischen Union.